ORF Medien Redaktion

1980 wurde der ORF von seinem Kuratorium beauftragt, eine medienkritische Serie zum Thema „Fernsehen“ herzustellen, die von Voitl und Guggenberger konzipiert und realisiert werden solle.

Generalintendant Gerd Bacher befand, dass ein solches Projekt nur von angestellten Mitarbeitern im Rahmen einer neu zu schaffenden „Medienredaktion“ hergestellt werden könne. Da Voitl und Guggenberger freischaffende Filmemacher waren, bot man ihnen eine Anstellung im ORF an. Die beiden nahmen dieses Anbot unter der Prämisse an, dass sie weiterhin inhaltlich, wie formal frei zu arbeiten wünschten.

Aufgaben und Ziele dieser neu zu schaffenden „Medienredaktion“ waren Projekte zum Thema Medienkunde, bürgernahes Fernsehen und ORF-intern „Planquadrat-Arbeit“ zu entwickeln.

Voitl und Guggenberger entwickelten im Oktober 1980 ein Positionspapier für diese Medienredaktion. Darin signalisierten sie, dass sie den Begriff MEDIEN-KULTUR ausloten und praktisch erproben wollen. 1977 und 1978 hatten sie in dem TV-Kulturmagazin „Wer bin denn Du?“ Kultur als „die bewusste und nachdenkliche Gestaltung des Lebens“ sowie „Kultur ist - wie wir gelernt haben, miteinander umzugehen“ definiert. Diese Definition auf „Medienkultur“ umzulegen, wäre eine spannende Aufgabe:

„Es ist unbestritten, dass das Fernsehen in doppelter Funktion mit Kultur im Zusammenhang steht. Einerseits als Träger kultureller Inhalte und Vermittler kulturellen Geschehens, andererseits ist es auch selbst Bestandteil der Kultur einer Gesellschaft und sagt als solcher viel über sie aus. Doch es scheint, als sei im Unternehmen (ORF) der Begriff „Kultur“ als bewusste und nachdenkliche Haltung in der Beziehung zum Publikum noch nicht entwickelt. Denn diese geht über das Anbieten von quotengenerierenden „Konsumgütern“ hinaus. Auch hat das Publikum noch kaum gelernt, mit dem Fernsehen umzugehen. Die im Unternehmen ORF tätigen Menschen könnten viel dazu beitragen, dass „Medienkultur“ entsteht; Redakteure, Journalisten, Autoren, Filmemacher, Regisseure, Techniker und die mit der Verwaltung Beauftragten könnten und müssten „Kultivisten" werden, um der wichtigen Aufgabe gerecht zu werden, Medienkultur im oben definierten Sinn zu entwickeln. Durch unsere Arbeit als Medienredaktion wollen wir Impulse für diesen Kultivierungsprozess setzen.

Die Realität entwickelte sich anders. Ein Artikel in der Wochenpresse beschrieb Voitl und Guggenbergers Schwierigkeiten als nunmehr angestellte Mitarbeiter des ORF sehr deutlich. Immerhin: Die vom ORF Kuratorium geforderte, medienkritische Serie „Unser Fernsehen-Fernsehen Unser“ konnten sie realisieren, 1983 wurde sie ausgestrahlt.

Die von Generalintendant Bacher gewünschte hausinterne „Planquadrat-Arbeit“ versuchten Voitl und Guggenberger mit sogenannten „Pick UP“- Veranstaltungen in Gang zu setzen. Nach einigen Versuchen mussten sie zur Kenntnis nehmen, dass unter ihren Kollegen Selbstreflexion und berufsbezogene Kommunikation nicht besonders erwünscht war. „Pick UP“ und damit die hausinterne „Planquadrat-Arbeit“ verlief rasch im Sande…

Dem Auftrag „bürgernahes Fernsehen“ weiter zu entwickeln, entsprachen Voitl und Guggenberger mit einem thematischen Vorschlag, der Bürgernähe und Ökologie verknüpfen sollte. Umwelt-Themen waren in den Medien zwar präsent, es wurde über Luft- und Wasserverschmutzung berichtet, über Umweltskandale las man eine Schlagzeile nach der anderen - über den zu hohen Nitratgehalt im Glashaussalat, Meldungen über verseuchte Muttermilch oder über zu hohe Östrogenwerte in der Babynahrung usw… Doch irgendetwas stimmte nicht, vor allem wenn man folgende Untersuchungsergebnisse in Betracht zog:

Das Emnid-Institut gab (1979) bekannt, dass etwa die Hälfte der Befragten (47%) in letzter Zeit „viel" über die Gefährdung der Umwelt gehört hätten, dass aber jeder Dritte seine Informationen zu Umweltproblemen für unzulänglich hielt. 51% der Befragten beklagten ein Informationsdefizit in Sachen Umwelt.

Eine im Auftrag des ORF durchgeführte Untersuchung des Instituts Basis Research hatte Daten zum allgemeinen Lebensgefühl der Österreicher erhoben. Signifikantes Ergebnis: An erster Stelle von allen angstmachenden Faktoren stand mit 47 % die Angst vor der Umweltverschmutzung. Noch vor der Angst vor Terrorismus (43%), vor Inflation (43%) und vor Arbeitslosigkeit (41%).

Mitte November 1981 publizierte das Sozialforschungsinstitut Psydata die Shell-Jugend­-Studie 1981: 76% der Jugendlichen rechneten damit, dass Technik und Chemie die Umwelt zerstören würden, 58% schätzten die Zukunft düster ein.

Woher waren diese Ängste und Befürchtungen zurückzuführen, wenn nicht zu einem Großteil auf die Vermittlung der Medien. 1980 lag in der Berichterstattung über Ökologie und Umweltschutz vieles im Argen. Es überwog der Skandal-Journalismus. Reißerisch wurden Einzelaspekte herausgegriffen, angeprangert, skandalisiert. Der „Rezipient" reagierte mit Resignation, Hoffnungslosigkeit, Empfinden von Ohnmacht oder meistens mit Verdrängung. Ohren und Augen zu! Es wird ohnehin nicht so schlimm sein. Aus Verdrängung entsteht jedoch irgendwann Angst, ohne ein Potential zur Bewältigung freizusetzen.

Francesco Rosi, der bekannte italienische Regisseur, sprach Voitl und Guggenberger aus der Seele, als er sagte:

„Die Phase Dinge nur zu entlarven ist vorbei. Wir können nicht nur bis in alle Ewigkeit irgendwelche Missstände aufzeigen! Wir müssen uns damit befassen einen Ausweg zu finden, eine Möglichkeit, wie man Probleme lösen kann. Damit man sie eben nicht mehr dauernd vorzeigen muss! Also, wenn man immer wieder schreit und da was enthüllt und dort was enthüllt, ohne sich damit zu beschäftigen wie das alles zu lösen ist, damit nichts mehr enthüllt zu werden braucht ...ich glaube, wenn wir so weitermachen, wird das schließlich zu einem bloßen Alibi, zu einer Art Paravent hinter dem wir das eigene schlechte Gewissen verstecken."

Wie thematisiert man also Ökologie und Umweltschutz anders und vor allem „bürgernah“? Und wie können die Erfahrungen, die Voitl und Guggenberger bei ihrer „Planquadrat Arbeit“ gewonnen haben, weiterentwickelt werden? Wie kann man vorgehen, wenn der zu beteiligende Personenkreis nicht mehr auf ein räumlich abgegrenztes, überschaubares Gebiet beschränkt ist, sondern Österreich umfassen soll? Ist Partizipation als Kriterium der Filmgestaltung auch in diesem Fall möglich und wenn ja, mit welcher Methode schafft man dies, ohne Gefahr zu laufen in Alibiaktionen steckenzubleiben?

Der Club of Rome hatte im Kontext mit der ökologischen Herausforderung bereits 1979 auf die Bedeutung des Lernens hingewiesen. Lernen als "Erörterung der freien inneren Spielräume, die in uns selbst existieren und Möglichkeiten zu ungeahnter Entwicklung beinhalten," schrieb Aurelio Peccei.

Er forderte den Übergang vom tradierten zum innovativen Lernen, welches auch die Vermittlung von Wertvorstellungen und menschlichen Beziehungen umfasst. Die Jugend möge sich darin üben „eine ethische Wahl" zu treffen, sagte er. Denn die Zukunft werde von uns Eigenschaften der Integration verlangen, zu welchen auch gegenseitige Achtung, Selbstbeschränkung, die Wahrnehmung gemeinsamer Interessen und Verzicht auf Egoismus gehören. Diese „ethische Dimension" gehöre zur Bildung, welche „das Bewusstsein der Menschen erweitere“.

Voitl und Guggenberger erarbeiteten daher ein Konzept, welches die Aufgabenstellung weitere Projekte des “bürgernahen Fernsehens” zu entwicklen und innovatives Lernen zum Thema Ökologie und in einem Projekt zusammenfasste.

Ein Zufall lieferte den Impuls, der sie zur Idee der “Stoffkern -Methode” führte. In einer Sammlung von Sponti-Sprüchen hatten sie einen Spruch entdeckt: „ICH GEH KAPUTT- GEHST DU MIT?“ Was ist unter “Stoffkern-Methode” zu verstehen?

Initiatoren formulieren kurz und kreativ das Wesentliche eines gesellschaftspolitisch relevantenThemas, zum Beispiel Ökologie. Das Thema wird sozusagen zu einem „Stoffkern“ komprimiert, der viele Assoziationen auszulösen im Stande ist.

Zum Beispiel: “Die Natur streikt!”

Das Plakat wurde von Jan Lenica entworfen.

Dieser “Stoffkern” wird sodann möglichst vielen Menschen vorgestellt: Einzelpersonen, Vereinen, Schulen, Jugendgruppen usw… Die Angesprochenen werden gebeten, den „Stoffkern“ assoziativ weiterzuspinnen und dies in Form von Texten, Malerei, Videoarbeit, Liedern, Gedichten, Theater, Seminaren, Diskussionsrunden, usw. zu dokumentieren. Die Ergebnisse solcher kreativen Lernprozesse werden gesammelt.

Diese „Animationsphase“ dauert drei bis vier Monaten. Unter dem Eindruck aller Artikulationen, die der “Stoffkern” ausgelöst hat, erfolgt nun die künstlerische Verarbeitung des Themas durch die Initiatoren/Filmemacher. Ein Filmteam lässt sich durch das gesammelte Material inspirieren und setzt das Material (für audiovisuelle Medien) in entsprechende Drehvorlagen um.

Der erste Entwurf für die Verbreitung des “Stoffkerns” sah so aus:

„DAS JAHR, IN DEM ES KEINEN FRÜHLING MEHR GAB…

Die Natur hatte es satt! Sie war mit den von den Menschen verursachten schlechten Bedingungen nicht mehr einverstanden und wollte nicht mehr mitmachen. Sie beschloß zu streiken: Kein Frühling in diesem Jahr!"

In der gedanklichen Weiterverfolgung dieses Stoffkerns sollten sich die Menschen (in Schulen, Vereinen etc.) sowohl mit der existenzbedrohenden Situation eines „Naturstreiks“ und dessen Folgen auseinandersetzen, als auch versuchen phantasievolle Möglichkeiten zu finden, den Konflikt beizulegen. Bewusst wird der Natur eine „quasi-Persönlichkeit" zugeschrieben. Die Mitwirkenden sollen dazu angehalten werden, nachzuforschen, welche Formen der Verständigung es mit Pflanzen und Tieren bereits gegeben hat oder geben könnte (auch in anderen Kulturen) und welche Formen der Verständigung und des Verständnisses gefunden werden könnten.

Da man die gedankliche Weiterverfolgung des vorgegebenen Themas als eine Übung im Nachvollziehen ökologischer Zusammenhänge bezeichnen kann, glaubten Voitl und Guggenberger, dass diese weitere Variante des „citizen journalism“ nicht nur spannend und reizvoll ist, sondern auch eine neue, kulturelle Dimension darstellt.

KULTUR = DIE BEWUSSTE UND NACHDENKLICHE GESTALTUNG DES LEBENS

KULTUR = WIE WIR GELERNT HABEN MITEINANDER UMZUGEHEN

Die „Gestaltung des Lebens" und das „Miteinander umgehen" schließt auch nicht-menschliche Lebewesen, Pflanzen, Tiere, sowie Boden, Wasser, Luft, also die gesamte Ökosphäre mit ein. Lernziel ist es, die Fähigkeit der Menschen zu fördern, ihre soziale, gebaute und ihre natürliche Umwelt bewusst zu erleben. Die emotionale Komponente dieser Fähigkeit ist Verantwortung und empathische Betroffenheit, die rationale Komponente die Erkenntnis der Zusammenhänge.

Um die “Naturstreik-Idee” praktisch umzusetzen, war es notwendig geeignete Strukturen zu finden, über die der “Stoffkern” in die Schulen, Vereine, Volks- und Erwachsenenbildungs-Institutionen etc..transportierbar sein würde. Voitl und Guggenberger nahmen daher Kontakt mit dem „Österreichischen Kulturservice" auf. Diese Institution war damals eine Außenstelle des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, die österreichweit den Kontakt zu Bildungsinstitutionen, wie Schulen, Jugendorganisationen, Vereine und Erwachsenenbildung ermöglichen konnte.

Der "Österreichische Kulturservice" erklärte sich bereit die Herstellung und den Versand von Animationsbroschüren und Plakaten, die den “Stoffkern” darstellten zu übernehmen und als Zentrale für den Rücklauf und dessen Auswertung zur Verfügung zu stehen.

Als eine weitere Plattform, um die Arbeit zum Thema “Ökologie und Medien” zu fördern, gründeten Voitl und Guggenberger 1982 den überparteilichen Verein „Ökologie und Medien“.

Presse

19930608 Wochenpresse

Weiterführende Notizen

NATURSTREIK und ARS ELECTRONICA 1982

1982 wurde die Ars Electronica zum dritten Mal in Linz veranstaltet. Hannes Leopoldseder, Mitbegründer der Ars Electronica (sie startete 1979) und Intendant des ORF Landesstudio Oberösterreich, schätzte die Arbeit von Voitl und Guggenberger sehr. Ihr Projekt „Planquadrat – Land“ hatte er tatkräftig unterstützt. Deshalb war er sehr offen für einen Projektvorschlag, den ihm Voitl und Guggenberger 1981 für die Ars Electronica 1982 vorlegten. Gemeinsam mit Markus Peichl, Burghart Schmidt, Marlene Streeruwitz, Ingrid Greisenegger und Hermann Urban gründeten sie den Verein „COOP Frühling“ und erarbeiteten das Konzept für ein künstlerisch animatorisches Experiment. Thematischer Ausgangspunkt des Projektes war der „Naturstreik“. Es verstand sich als ergänzender Kontrapunkt zur damals rein technologisch orientierten Konzeptionen des Ars Electronica und war eine kritische Auseinandersetzung mit den Zeichen der Zeit und deren Projektion in eine utopische Zukunft.

2019 - anlässlich 40 Jahre Ars Electronica - sagte Andreas J. Hirsch, dass sich das Thema „Zukunft“ durch die gesamte Geschichte der Ars Electronica gezogen habe: „Dabei ging es von Anfang an nicht um eine naive Zukunftseuphorie oder Technikbegeisterung, sondern um einen kritischen Zugang, eben den Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen von Technologie. „Creating the Future“ enthält daher so etwas wie einen Ausweg aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Diese Selbstermächtigung kennzeichnet den Kerngedanken von Ars Electronica - ein sehr aufklärerischer Gedanke, der hohe Aktualität besitzt.“

Diese Einsicht war 1982 bei den Verantwortlichen der Ars Electronica noch nicht ausgebildet. Hannes Leopoldseder, der den Projektvorschlag „Naturstreik“ anfangs enthusiastisch begrüßte und förderte, bekam „kalte Füße“. Als Mitte 1981 in Deutschland „Die Grünen“ bei den Wahlen in Berlin erfolgreich waren, wollten die Gremien der Ars Electronica sich mit dem Projekt “Naturstreik” „keine grünen Läuse in den Pelz setzen“. Daher musste Leopoldseder das Projekt „Naturstreik“ absagen.

Dokumente

Projektgruppe Coop Frühling AE
Gesprächsprotokoll AE 19810409
1982 : Journalismus als Anreger innovativer Lernprozesse
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Verein Ökologie und Medien