Das Kranichweib

2010

Inhalt

Das Drehbuch von Elisabeth Guggenberger für diesen experimentellen Film basiert auf Texten aus dem Romanfragment „Naturgemäß III“ der österreichischen Schriftstellerin Marianne Fritz. Die Textfragmente der Schriftstellerin wurden mit Texten aus historischen Briefen und Dokumenten eines Liebespaares während des ersten Weltkrieges (es sind Guggenbergers Großeltern) verflochten und zu einer inszenierten, filmischen Erzählung verwoben. Der Film ist als Impuls für eine Annäherung an das imposante und schwer zugängliche literarische Werk von Marianne Fritz gedacht.

Ausgangspunkt für die Idee des Films war das Textgelände Wien! 2010. Diese Initiative des Theaterkollektivs Fritzpunkt hatte sich die Verbreitung der Literatur von Marianne Fritz zum Ziel gesetzt hat. Im Textgelände Wien! verdichteten sich vom 1. - 12. Dezember 2010 in ganz Wien eine Vielzahl von Aktionen temporärer Fritz-Interpretinnen und -Interpreten zu einem „Textgelände Wien“. Zündstoff für alle „Kreationen“ waren Ausschnitte aus dem Romanfragment Naturgemäß III. Aufführungsort: Ganzes Stadtgebiet, Wien, Österreich.

Der Film “Das Kranichweib” war ein Beitrag zum Textgelände Wien! und wurde am 12.12.2010 in einem Souterrain-Lokal im 4. Wiener Bezirk vorgeführt.

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Weiterführende Notizen

Projektbeschreibung von Elisabeth Guggenberger

Anfang November 2010 erhielt ich von der Theatergruppe Fritzpunkt ein Textfragment aus dem Werk der österreichischen Schriftstellerin Marianne Fritz zugeteilt: Achtzehn Seiten aus ihrem zehntausend Seiten umfassenden dreiteiligen Roman Naturgemäß. Ich wurde eingeladen die achtzehn Textseiten als Impuls und Ausgangspunkt für eine eigene, kreative Arbeit zu nehmen und diese im Rahmen einer Veranstaltungsreihe der Theatergruppe (Textgelände) Anfang Dezember 2010 zu präsentieren.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich von Marianne Fritz nichts gewusst, nichts gelesen. Wie ich heute weiß, ein Versäumnis. Denn Marianne Fritz schrieb Weltliteratur, die in einem Atemzug mit Robert Musil, Marcel Proust und Arno Schmidt genannt wird, die aber - so der Literaturkritiker Friedhelm Rathjen - diese Verwandtschaften weit hinter sich lässt. Was Marianne Fritz geschaffen hat, ist schlichtweg unvergleichlich.

Als Lesende sah ich mich zunächst mit Textfragmenten konfrontiert, sperrig in Sprache, Stoff und Struktur. Doch hinter dem vermeintlichen „Chaos“ verbirgt sich ein ausgeklügeltes Ordnungssystem, welches auf Grund des enormen Textumfanges vorerst nicht erkennbar ist. Diese Desorientierung ist strukturell im Werk angelegt und war eine Strategie der Marianne Fritz.

Wer mit Fragen Wie – Wann? Wo? Wer? Was? Warum? an die Lektüre des Romans Naturgemäß herangeht, ist bald verloren. Zwar steht im Mittelpunkt des Zeitgefüges dieses Romans das Jahr 1914, also der Beginn des Ersten Weltkrieges, doch sind die Zeitfäden, die im Roman verwoben wurden, sowohl in der Vergangenheit (sogar bis in die mythische Vergangenheit zurück) - als auch in der Zukunft verankert.

Das Jahr 1914 verweist auf das Thema: Krieg. Im Chaos der Prosa spiegelt sich das Thema: Krieg ist Chaos, er ist das Zusammenbrechen aller Ordnung, aller Erklärungsversuche, aller Verdrängungsmuster. Aber Marianne Fritz‘ Roman erzählt eben nicht vom Krieg, sondern er bildet den Krieg nach, in all seinem Widersinn und all seiner Gewalt. Marianne Fritz: „In Naturgemäß wird das Kollektivgeschehen namens Krieg vollkommen in die Sprache hinein verrückt.“

Im Kollektivgeschehen Krieg spürt Marianne Fritz aber auch – wie sie es nennt - die „Nullgeschichte, die trotzdem war“ auf, - also jene des Individuums, dessen Welt im Krieg zerfällt. Doch wiederum erklärt Fritz diesen Zerfall nicht, sondern formt auch ihn. Der Philosoph Konrad Paul Liessmann hat diese Leistung der Schriftstellerin so beschrieben: „Während ihr Roman im Prozess des Formens zerfällt und dabei den Zerfall formt, wächst er wie alles Zerfallende und wird Gewalt, wie alles Formende.“

Fritz legt fragmentarisierte Ebenen verschiedener Erzählstoffe, Diskurse und Zeiten übereinander und türmt sie zu einem Geschichts- und Geschichtenschiefer auf. Stets sind mehrere Ge-Schichten gleichzeitig präsent. Gedächtnislandschaft wird allmählich zu einem Textgelände geformt. Dazu bedient sich die Autorin einer Vielzahl von Techniken:

Kopfzeilen, die ihre eigene Geschichte erzählen, horizontale Teilung der Seiten in Drittel oder Hälften, graphische Elemente, verschiedene Typographien, Schriftgrößen und Schrifttypen, das Splitten von Einzelbuchstaben, Worten oder ganzen Zeilen. Marianne Fritz brach auch mit den Regeln von Grammatik und Zeichensetzung; sie ließ Pronomina und Hilfsverben fort, veränderte die Wortstellung, sprengte selbst einfachste Aussagesätze durch eingeführte Kommata und Semikola.

Die immer wiederkehrenden Grundthemen Geburt, Krieg und Tod verbinden die einzelnen Schichten. Ein Leser, der das alles gleich „verstehen“ und „durchschauen“ will, ist chancenlos. Nur wer sich dem Text bedingungslos überlässt, wird erstaunliches erleben: Fritz-Texte sind an Intensität kaum zu übertreffen.

Zunächst haben auch mich die achtzehn Seiten Text, die mir übergeben worden waren, erst mal überfordert. Ich hatte keine Ahnung, womit ich es zu tun hatte und wie ich vorgehen sollte, um davon ausgehend etwas Kreatives zu gestalten. Vor allem was? Erst als ich wortwörtlich nahm, was auf einer der Seiten geschrieben steht-

„Hätte! Könntest du die Hätte alle zählen, dann würdest’ das abschreiben, ohne mit der Achsel zu zucken.“

… als ich dieser Aufforderung nachkam und begann die Ziffernkolonnen und Graphikelemente, die auf der oberen Hälfte dieser Seite zu sehen sind, abzuschreiben, fand ich allmählich den Zugang zu dieser „Text - Festung“. Während der monotonen Tätigkeit des Abschreibens trat mein Intellekt in den Hintergrund und die intuitive Kreativität konnte sich ihren Weg bahnen.

Im Text fand ich das Wort “Kranichweib”, Marianne Fritz verwendete es als fiktive Ortsbezeichnung. Ich verwandelte die Fritz’sche Ortsbezeichnung zu dem, was das Wort besagt: zu einem weiblichen Vogel des Glücks. Dann erinnerte ich mich an die Kriegstagebücher meines Großvaters und an die Briefe, die ihm meine Großmutter, damals seine Verlobte, ab 1914 an die Front geschickt hatte.

Ich verwob Zitate aus diesen privaten Originaldokumenten mit Textstellen aus Naturgemäß II. und III. zu einem Drehbuch. Gemeinsam mit der Theatergruppe Fritzpunkt wurde es zu einem Filmdokument umgesetzt. Ich sage Filmdokument, weil weder der Begriff Inszenierung noch der Begriff Dokumentation alleine ausreichen würde, um das, was entstanden ist, zu kategorisieren.

Welche Geschichte erzählt das Filmdokument?

Es ist die Geschichte von Rudolf Schwefel, einem Protagonisten des Romans Naturgemäß, in dem ich meinen Großvater wiedererkannt habe. Ich gab Rudolf Schwefel durch Fotografien meines Großvaters ein Gesicht und eine zusätzliche, dokumentarische Stimme.

Rudolf Schwefel, ein junger k.u.k. Soldat des Ersten Weltkrieges, liebt ein Mädchen. Sie, sein “Kranichweib”, ist der Fokus all seiner Gedanken, der Ort seiner Sehnsucht, wenn er ihr von der Front schreibt. Doch der Kriegsherr, der Willensbrecher, ist stärker. Allmählich mutiert der Soldat zum Schatten des Willensbrechers. Und so führt der “Heldentod” des Soldaten auch die Bedeutung des Kranichweibes, als Vogel des Glücks und Symbol des langen Lebens ad absurdum.

Das entstandene Filmdokument entspricht der Zielsetzung der Schriftstellerin Marianne Fritz, die über ihr Werk Naturgemäß sagte: "Vielleicht befasse ich mich mit dem, was gewisse Formulare, Dokumente und bloß karteimäßig erfasste Lebensläufe ausblenden. Wahrscheinlich, mache ich gewisse Lebensläufe wieder zum Erlebnis."

“Das Kranichweib”, ein Experimentalfilm für die Veranstaltung „Marianne Fritz - Textgelände“, Dezember 2010

Konzept, Text: Elisabeth Guggenberger; Filmgestaltung: Helmut Voitl; Darsteller: Anne Mertin, Fred Büchl, Susanne Hahnl / Theatergruppe Fritzpunkt.

Vorführungen: Dezember 2010 im Rahmen des Textgeländes und März 2011, an der Filmakademie Wien;

Das Theaterkollektiv Fritzpunkt

Seit 2002 veranstaltete das Stadttheater Wien unter dem Namen Fritzpunkt eine ständige Reihe von Theateraufführungen, öffentlichen Aneignungen, performativen Installationen, Medienprojekten, Lesereihen, Vorträgen und Aktionen im öffentlichen Raum zum Werk von Marianne Fritz, z. B. im Rahmen des steirischen herbstes 2008 und 2010.

Das Fritz-Manöver, eine Übung für den Ernstfall, eines der Beispiele für diese Auseinandersetzung, bestand im Versuch, 1357 Menschen auf der Stadtwildnis Gaudenzdorfer Gürtel in Wien zu versammeln, um jeweils eine Doppelseite aus dem Roman Naturgemäß II simultan zu lesen, womit in etwa 10 Minuten der gesamte Roman bewältigt werden könnte. Am 11. September 2006 fanden sich einige hundert Literaturbegeisterte zur ersten "Übung für den Ernstfall" zusammen.

Im Dezember 2010 installierte das Theaterkollektiv Fritzpunkt (Anne Mertin, Fred Büchl, Susanne Hahnl) in der österreichischen Bundeshauptstadt die fragmentarische Operation "Textgelände Wien". Das bis dato noch nicht verlegte Romanfragment "Naturgemäß III" der Autorin Marianne Fritz war Ausgangsmaterial für Aktionen verschiedenster Genres, die von temporären Fritz-Interpretinnen und -Interpreten vom 1. bis zum 12. Dezember 2010 sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum realisiert wurden.

Am 14. Dezember 2011, dem 63. Geburtstag der Autorin, veröffentlichte das Theaterkollektiv Fritzpunkt das Romanfragment Naturgemäß III (Oder doch / Noli me tangere / "Rührmichnichtan!") als online-Fassung unter www.mariannefritz.at.

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