Die Ukraine
1991
Inhalt
"Russland häutet sich in zwei Tagen. Allerhöchstens in drei..." - so beschrieb der russische Schriftsteller Wassilij Rosanow die bolschewistische Revolution 1917. Im August 1991 „häutete" sich Russland wieder… Die Sowjetunion zerfiel.
Mit der zweiteiligen Dokumentation liefern die Voitl und Guggenberger einen spannenden Einblick in die Mechanismen des stürzenden Sowjetimperiums. Die Ukraine spielt dabei, wie schon oft in der Geschichte, eine Schlüsselrolle. Wer die Ukraine versteht, versteht Russland.
Teil 1: 04.10.1991, 60 min.
Mit Leid bedeckt, mit Blut übergossen…
Teil 1 führt den Zuseher durch die Ukraine der Sowjetmacht und des Kommunismus. Neben interessanten Einblicken in die Geschichte der letzten 73 Jahre erfährt der Zuseher auch von den landschaftlichen Schönheiten und dem Zauber der ukrainischen Kultur. Daneben wird aber erschreckend klar, wieviel Leid die Ukraine zu ertragen hatte. Keine andere Sowjetrepublik wurde vom kommunistischen System so gebrochen. Die Ukraine hatte sich 1917 zum ersten Mal für unabhängig von Russland erklärt und weigerte sich, die bolschewistische Regierung in Petrograd anzuerkennen. Die Rote Armee besetzte daraufhin das Land und die Bolschewisten gründeten 1922 die sozialistische Sowjetrepublik Ukraine. 1932/33 ließ Stalin in der Ukraine absichtlich eine Hungersnot herbeiführen, um den Widerstand der Ukraine gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft zu brechen. Bis zu sieben Millionen Menschen verhungerten. Der Terror des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten), Massendeportationen der Kulaken (Bauern) und massive Sowjetisierung des Landes und seiner Kultur bis in die 1980er Jahre sollten das ukrainische Bewusstsein brechen. Die Ukrainer leben noch immer mit diesen Trauma.
Nach den Putschereignissen des August 1991, die zum Zerfall der Sowjetunion führten, war die Ukraine eine der ersten Sowjetrepubliken, die ihre Unabhängigkeit erklärte. Darauf reagierte Russland sofort mit einer imperialen Drohgebärde. Die Grenzen müssten im Sinne des „einen und unteilbaren Russlands" revidiert werden, hieß es. Die Sowjetunion löste sich auf, Russland schloss mit der Ukraine eine zwischenstaatliche Absichtserklärung zur Zusammenarbeit ab, ein neuer „Wirtschafts-Staatenbund“ sollte geschaffen werden….
Teil 2: 11.10.1991, 60 min.
Mitten in der Nacht wird die Sonne aufgehen…
Der Film erzählt über die Ukraine als eine bedeutende europäische Kulturnation. Die Ukraine, was so viel heißt wie „Grenzland", war immer das Grenzland zwischen Europa und Russland bzw. Asien. Der Dokumentarfilm macht deutlich, dass die 73 sowjetischen Jahre der ukrainischen Geschichte nur die Fortsetzung eines schon Jahrhunderte dauernden imperialen Verhältnisses Russlands zur Ukraine darstellen. Das Sowjetimperium führte ungebrochen die Struktur des alten zaristischen Imperiums weiter. Legt man die historischen Schichten des Verhältnisses Russland - Ukraine frei, so erkennt man, wie sich Geschichte wiederholen kann.
Beeindruckende Gespräche, die wieder der ukrainisch-russische Schriftsteller Anatol Strelianyi führte, spüren im Alltag der ukrainischen Menschen den Jahrhunderten der gemeinsamen ukrainisch-russischen Geschichte nach. Noch immer ist die Zeit des Zaren Peters des Großen gegenwärtig. Die ukrainische Sprache zum Beispiel wurde seit Peter d. Großen bis zu Leonid I. Breschnew, immer wieder verboten und behindert. Bis 1989 war die Amtssprache der Ukraine russisch.
Wer die Geschichte der Ukraine kennt, muss sich fragen, ob der Zerfall des Imperiums ohne weitere Gewaltanwendung Russlands vor sich gehen wird. Möglicherweise wird es wieder Versuche geben, das „eine und unteilbare Russland zu retten“. Dann würde die Ukraine als erste Republik das Zentrum eines heute (1991) noch unvorstellbaren Konfliktes sein. „Die Ukrainer waren immer berühmt für ihre Besonnenheit, vielleicht zu ihrem Schaden. Wir sind eine europäische Nation, davon wird unser Verhalten bestimmt“, sagt Serhei Rodiuk, Offizier der eben erst gegründeten ukrainischen Streitkräfte. Und der Historiker Mychajlo Hruschewskyj schreibt: „Die Ukrainer haben immer besser gesungen als um ihre Freiheit gestritten“. Guggenberger und Voitls Hoffnung im Schlusstext des Films: „Es bleibt zu hoffen, dass ukrainische Soldaten nie wieder für die Freiheit ihres Landes zu kämpfen gezwungen sind. Ihre Lieder sollen die Ukraine berühmt machen“.
Credits
Fotos
Video
Presse
ORF Presseinformation, Presseinformation 19911004 Krone, 19910930 Kleine Zeitung, 19911005 Salzburger Volkszeitung; 19910305 Arbeiterzeitung, 19910504 Kurier, 19910504 Kurier Magazin; 19911006 Arbeiterzeitung und Kurier; 19911003 Präsent, Mix, 19911008 Der Standard, Mix 2, 19911004 Der Standard; 19911003 Wiener zeitung, OÖ Nachrichten, Vorarlberger Nachrichten; 19911005 Der Standard;
Weiterführende Notizen
Der Zerfall der Sowjetunion begann mit der Unabhängigkeitserklärung Litauens am 11. März 1990. Der Putsch in Moskau im August 1991 und die Belowescher Vereinbarungen am 8. Dezember 1991 beschleunigten den Zerfall der UdSSR. Nach dem Rücktritt von Michail Gorbatschow endet am 26. Dezember 1991 die Existenz der UdSSR. Die Auflösung des weltgrößten sozialistischen Staates markierte zugleich das Ende des Kalten Krieges.
Warum diese kurze Darstellung?
Seit Tschernobyl 1986 interessierten sich Voitl und Guggenberger für die UdSSR. Sie produzierten dort die Dokumentarfilme „Russkij Chleb“ und „Was tun, Towarisch?“, bekamen also noch zu Zeiten der Sowjetunion (später Russland und GUS-Staaten) Drehgenehmigungen, die nicht selbstverständlich waren. Es entstand große Empathie für die russischen Menschen und ein tiefes Gespür für gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklungen. Ihr Anliegen auch einen Film über das „Verhältnis Russland – Ukraine“ zu produzieren äußerten sie 1989 gegenüber dem Programmverantwortlichen des ORF. Es wurde als nicht aktuell abgelehnt. „Wen interessiert schon die Ukraine?“ war die Begründung.
Voitl, Guggenberger und ihr Team beschlossen „Urlaub zu machen“. Sie besorgten sich zwei VW-Busse und reisten Anfang März 1990 in die Ukraine. Mit ihnen unterwegs war wieder Anatol Strelianyi. Der zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhersehbare Zerfall der Sowjetunion begannt mit der Unabhängigkeitserklärung Litauens am 11. März 1990. Voitl, Guggenberger zu diesem Zeitpunkt schon in der Ukraine, drehten in der Folge parallel zu jenen Ereignissen, die zum Zerfall der UdSSR und schließlich zur Unabhängigkeit der Ukraine führten. Die selbst verantworteten Dreharbeiten standen also am Beginn eines historisch bedeutenden Ereignisses. Wieder einmal brach sich Unvorhersehbares die Bahn und schuf Material für einen Film, das kein Drehbuch hätte berücksichtigen können…
Zurück in Wien erachtete der Programmverantwortliche das Thema „Ukraine“ nun doch als „aktuell“ und beauftragte Voitl und Guggenberger einen Dokumentarfilm über die Ukraine zu drehen. Wieder drehten sie bei ihrer zweiten Reise durch die Ukraine zeitgleich zu politischen Ereignissen, die zur Erklärung der Unabhängigkeit des Landes und schließlich zum Zerfall der UdSSR führten.
Nach Rückkehr von diesen zweiten Dreharbeiten und den aus Aktualitätsgründen angepeilten Sendeterminen im Oktober, blieben nur drei Monate, um alle Gespräche zu übersetzen, zweimal sechzig Minuten Dokumentarfilm zu schneiden, und sendefertig zu machen.
Der Filmschnitt verlief zeitgleich zu den unvorhersehbaren Ereignissen in Moskau. Auf Grund des Augustputsches in Moskau und der ukrainischen Unabhängigkeits-Erklärung am 24. August, mussten Szenen umgeschnitten und Texte an die Aktualität angepasst werden. Ein außergewöhnliches Dokumentarfilm-Erlebnis, Geschichte nicht über Nachrichten in Medien zu erfahren, sondern „mit der Kamera in der Hand“ und im Schneideraum direkt zu erleben. Die erste Folge wurde am 4.10.1991, die zweite Folge am 11.10.1991 gesendet.